tryggvi

Balance "sehen" und erfühlen. Über empathische Kommunikation, Gefühlsansteckung, -

und was das fürs Reiten und die Zusammenarbeit mit dem Pferd vom Boden aus bedeutet

 


Christine stellt mir ihr Reitbeteiligungspferd Tryggvi vor. Sie will mehr über Balance und Beweglichkeit des Pferdes erfahren. Sie meint, sie „sähe“ leider nicht, ob ein Pferd nun in Balance sei oder nicht, und will wissen, wie man das lernen kann.

 

Und so stelle ich ihr die Herangehensweise vor, daß man sich selbst „ins Pferd hineinversetzt“. Denn nur so kann man wirklich „sehen“, also seh-fühlen. Gemäß Friedrich Nietzsche:

 

 

„Den anderen verstehen, das heißt, sein Gefühl in uns zu erzeugen.“

 

 

Zum Erlernen und Üben des „Seh-Fühlens“ macht man am besten eine Pantomime vom Pferd, um das es geht. So, als wolle man jemandem einen Eindruck von dem nicht anwesenden Pferd geben, hat aber kein Photo zur Hand.

 

Man stellt sich dafür genau so hin wie das Pferd steht.
Man mimt dessen Gesichtsausdruck.
Man kopiert, wie es mit seinen Hufen dasteht. Auch ob diese flach oder steil stehen.
Man imitiert die Anspannung, die man bemerkt.
Man geht so wie das Pferd, trabt, galoppiert, töltet so.

 

 

Man tut also so, als sei man selbst das Pferd und spürt entsprechend an sich selbst, wie es dem Pferd (vermutlich) gerade geht, wie es sich fühlt, und wie es sich bewegen kann in seiner aktuellen Körperhaltung. Und man spürt und weiß entsprechend auch, ob es sich mit dieser Haltung eben auch nicht bewegen kann. Oder nicht so, wie man es sich gerade wünschen würde.

 

 

Schon bald wird man keine Pantomime mehr zu machen brauchen, um zu „sehen“. Denn nach einiger Übung erzeugt sich schon beim ersten Blick auf ein Pferd gleich automatisch das entsprechende Gefühl des Körperzustands, der Bewegung und auch der Emotionen im eigenen Körper und Geist.

 

 

Für die Übertragung dieser Informationen sind u.a. die Spiegelneuronen zuständig. Sie arbeiten allerdings nicht nur per Sehsinn, sondern auch per reinem Spüren ganz ohne Hinsehen. Denn die Informationen über Körper- und Emotionszustände, auch über gehegte Absichten und Gedanken, überträgt sich vergleichbar wie Funk zwischen Lebewesen. Es braucht dafür nur ein angeschaltetes „Empfangsgerät“. Für unseren Körper und Geist bedeutet dies, eine ruhige Präsenz im Hier und Jetzt innezuhaben, und einen nicht-forcierten bewußten Wahrnehmungszustand, die Anwesenheit.

 

 

 

Das ist nun das Grundprinzip für das Erkennen des Zustands eines Pferdes. Und wir werden es auch gleich praktisch anwenden. Aber Christine will ja wissen, was es heißt, wenn ein Pferd in Balance ist, und woran man das erkennt:

 

Ich versuche, dies einfach zu erklären:

 

 

 

Balance ist die Körperhaltung, in der ein Pferd (oder Mensch) sich von seinem aktuellen Standpunkt aus jederzeit in jede Richtung bewegen kann oder könnte.

 

 Jede Richtung bedeutet, daß es auch nach oben vom Boden abfedern oder springen, und auch nach unten in die Hocke gehen könnte. Dafür braucht das Pferd eine Haltung, in der der Schwerpunkt genau in der Mitte liegt, die Pferde-Wirbelsäule in sich gerade ist, und alle Beingelenke so sind, daß sie eben federn könnten und auch dafür bereit sind.

 

 

Für ein Wesen, das auf Beinen unterwegs ist, ist Balance sowieso nur möglich, wenn Körper und Gelenke ungehindert auf und ab federn und auf und ab springen können. Es ist die Grundvoraussetzung für jede ungehinderte Beinbewegung, und dafür, daß mit diesen Beinen der darüber angeordnete Körper verspannungsfrei befördert werden kann.
Denn jedes Bein, und auch der Körper des Pferdes, beschreiben in Balance gleichmäßige Auf- und Abbewegungen. Je nach Gangart in einer unterschiedlichen Beinabfolge, einem unterschiedlichen Rhythmus, im Schritt und Tölt ohne Sprung, im Trab, Galopp und Rennpaß mit Spüngen.

 

 
Aber jetzt geht’s erstmal um die Umsetzung des „Seh-Fühlens“ in die Praxis.

 

Deshalb stehen Christine, Tryggvi und ich nun nebeneinander in der Reithalle, und ich leite Christine dazu an, Tryggvi nachzuahmen wie er gerade dasteht. Und zwar so genau es irgend geht.

Christine beginnt also ihre Pantomime des Pferdes. Für das genaue „Spiegelbild“ checkt sie immer wieder Tryggvis Haltung. Sie versucht sich in diese hineinzufühlen, sie genau zu analysieren.
Und mit meiner Unterstützung checkt sie auch immer wieder ihren eigenen Körper, den sie durch den Vorgang immer eingehender wahrnimmt und koordiniert.

 

 

Was hier zum Erkennen und Verstehen stattfindet, ist ein Parallelspüren und -wahrnehmen von zwei Körpern: ihres eigenen und den des Pferdes.

 

Zunehmend wird Christine nun das (menschliche) Abbild von Tryggvi, wie er etwas hängend in seinen Vorderbeinen dasteht, den Hals nach vorne herausgestreckt, die Hinterbeine hinten herausstehend, wie der Brustkorb hängt und die Wirbelsäule hinterm Widerrist etwas herunterzieht.

 

Wir fragen uns: Wie könnte man nun in dieser Haltung gehen? Könnte man überhaupt gehen? Gar federnd in den Gelenken?
Christine befindet: Nein, so könnte man nur nach vorne umkippen, um dann doch irgendwie weiterzulaufen oder weiterzustolpern.

 

Wie aber müßte Tryggvis Körperhaltung sein, damit er gelöst und frei atmend schreiten oder gar einen federnden Trabtritt oder Galoppsprung machen könnte?

 

Christine spürt in sich hinein und fängt an, sich umzusortieren für eine derartige Bewegungshaltung. Sie füllt sich, atmet freier, spürt mehr Federungsfähigkeit und Tatkraft in ihren Armen, Schultern, Ellenbogen, in den Hüft- und Beingelenken. Sie bekommt mehr Ausdruck und Ausstrahlung. So, meint sie, könne sie nun ausschreiten, auch federnd traben, und der Welt begegnen.

 

Und in diesem Moment tut sich etwas neben uns …

 

 

Tryggvi, der bisher brav und (vermeintlich) unbeteiligt neben uns gestanden hatte, fängt mit einem mal an sich groß zu machen. Er wölbt seinen Hals auf, reckt seinen ganzen Körper, und steht plötzlich ganz aufgeräumt da, ein Abbild von Christine in ihrer befreiten und bereiten Bewegungshaltung!

 

Und dabei wir hatten nichts mit ihm gemacht! Nicht an ihm gearbeitet.

 

 

Aber sein Körpersystem hat durch Gefühlsansteckung teilgenommen an unseren tief spürend analysierenden Wahrnehmungen und Überlegungen.

 

Unser Hinspüren hat absichtslos ein Informationsfeld erzeugt, in das Tryggvis Körper und Geist mit eingetaucht ist. Er und sein Körper wurden über unsere BewegungsHaltungs-Idee in-form-iert. Denn Spüren, Wahrnehmen und Gefühlsansteckung sind die eigentlichen und hauptsächlichen Kommunikationsmittel zwischen Lebewesen.

 

Tryggvis KörperGeist-System, seine Nerven- und Gehirnzellen, sein sensomotorisches System, sind unseren Ausführungen und Nachspürungen gefolgt, haben sich darin selbst wahrgenommen und erkannt, - und er hat die neue Variante als sich gut anfühlende, tolle Idee aufgenommen und umgesetzt.

 

 

Wir waren begeistert! Und er vielleicht auch?!

 

 

(Photos Andrea Klasen)

 


 

Gefühlsansteckung für Balance, - und was das fürs Reiten und für die Zusammenarbeit mit dem Pferd vom Boden aus bedeutet

 

Ein Pferd kopiert uns also. Und zwar bis ins Detail.

Sowohl im Stand, aber auch in jeder Bewegung! Und zwar nicht nur in passiver Kommunikation wie bei Tryggvi. Denn die Kommunikation per Gefühlsansteckung kann auch aktiv angewandt werden. Sie ist der eigentliche und wesentliche Kern von „Sitz“ und „Hilfengebung“ bei Reiten.

 

 

Was Christine mit Tryggvi im Stand herausgefunden hat, gilt genauso für jede Gangart, jeden Seitengang, jeden Übergang:
Man muß die Gangart, den Seitengang, den Übergang genauso selbst laufen oder gehen können, wie man es vom Pferd als Spiegelung von einem selbst sehen möchte. Man muß sie vorab in sich selbst als Potential erzeugen und spüren. So wird man das Vorbild fürs Pferd.

 

 

Wenn wir diese Idee einer Körperhaltung, Bewegungsweise, Emotion und Gangart, die in uns lebendig ist, spüren, dann kann das Pferd sie als Information auffangen, wie ein Radio den Radiosender. Sogar wenn es ein bloßer Gedanke an etwas ist, - das Pferd fängt ihn auf. Selbst, wenn wir diese Idee nur tief drin in uns „wissen“, ohne sie nach außen sichtbar werden zu lassen.

 

Man braucht daher noch nicht einmal eine Bewegung vormachen. Es genügt völlig, wenn man in sich selbst „nur“ spürt bzw. weiß, daß man die Bewegung selbst ausführen KÖNNTE.

 

 

Beim Reiten ist dies ja logische Voraussetzung, denn dort kann man die Bewegung wirklich nicht selbst ausführen. Aber man müßte, falls das Pferd unter einem „weggezzaubert“ würde, selbst den gewünschen Bewegungsablauf ausführen können.

 

Pferd und ReiterIn sind zusammen also ein Gedanke und ein Bewegungs-Körper, eine Bewegungsidee. Als Reiter folgt man also nicht der Bewegung des Pferdes, sondern man IST die Bewegung, synchron mit dem Pferd.

Vergleichbar ist dies mit einem Tanzlehrer beim Synchrontanz mit Schülern: Er muß die Bewegungen und die Körperhaltung kennen und vormachen können. Denn seine SchülerInnen spiegeln ihm genau, was er vormacht.

 

Der Tanzlehrer muß mehrere Möglichkeitenausführen können, so wie man selbst mit dem Pferd:

 

Er kann den Tanz initiieren und dirigieren, und kann dabei auch selbst synchron mittanzen.

 

Oder er leitet, mehr oder weniger sichtbar, die Schüler zum Tanz an. Dann ist er selbst nur innerlich Teil des Tanzes, des Taktes, der Bewegungsabfolgen.

 

Und er muß auch jederzeit in der Lage sein, den SchülerInnen jederzeit konstruktive Hilfestellung für Körperhaltung und Bewegungsabläufe zu geben. Dafür braucht er eine koordinierte Hilfestellungshaltung.

 

 

Bei jeder Zusammenarbeit mit dem Pferd sind wir in dieser Rolle des Tanzlehrers. Wir müssen die Bewegungsabläufe und die genaue Körperbewegung des Pferdes kennen. Und wir müssen sie anleiten können. Ob von oben aus beim Reiten, wie zwei Akrobaten übereinander, oder vom Boden aus.

 

Immer geht es darum, daß sich zwei Wesen sich abstimmen und "absprechen", sich koordinieren und synchronisieren für Balance und Bewegung. Schritt für Schritt und Sprung für Sprung.

 

 

 

Dies alles wirft ein völlig anderes Licht auf „Sitz“ und „Hilfengebung“ beim Reiten!

 

Ein bloßes Sitzen, sich tragen lassen, gar ein schweres Einsitzen oder ein nach vorne ins Pferd schiebender Sitz macht es einem selbst unmöglich, ein Vorbild für federnde Bewegung zu sein, oder gar stabile sichere Hilfestellung zu geben und den Pferdekörper zu koordinieren für die federnde Bewegung.

 

Dem Pferd ist es dadurch nicht möglich, sich wirklich frei, koordiniert und balanciert (auf und ab) zu bewegen. Es wird gedrückt, und damit ist die Federung blockiert oder gar unmöglich.

 

Das Auf und Ab darf also nicht durch Sitz und Einwirkung behindert oder blockiert werden.

Die Aktivität der Hüftbeuger (Psoasmuskulatur) ist hier sowohl beim Pferd als beim Mensch essentiell.

 

 

 

Gefühlsansteckung bei der Bodenarbeit

 

Die Kommunikation per Gefühlsansteckung ist auch der Kern der Zusammenarbeit mit dem Pferd vom Boden aus. Ob beim Longieren oder Führen, bei der Arbeit an der Hand oder der Freiarbeit.

 

Bei der Zusammenarbeit am Boden hat man im Vergleich zum Reiten aber mehrere Optionen:

  • Man kann sich mit dem Pferd gleichzeitig synchron bewegen.
  • Man kann nur das Pferd sich bewegen lassen und entsprechend nur innerlich die Bewegung vor- und miterleben und das Pferd dadurch anleiten, aber selbst äußerlich fast ganz in Ruhe bleiben.
  • Und man kann das Pferd sich auf eine andere Weise bewegen lassen als man selbst es tut, z.B. in unterschiedlichen Gangarten.

 

Immer aber gilt:

 

Nur wenn man die Bewegung in sich schon vorweg (als Vorbild) und dann mit dem Pferd mitverspürt, kann man das Pferd mit dieser inneren Idee auch anstecken.

Nur dann kann man es über die eigene Bewegungsidee informieren, und auch darüber, wie die Körperhaltung dafür sein soll, und vor allem, wie sich beides anfühlen soll!

 

 

Um sich zu vergewissern, daß die eigene Bewegungsvorstellung tatsächlich das richtige Vorbild dafür ist, was das Pferd ausführen soll, führt man am besten die Bewegung ohne Pferd immer erst einmal selbst aus. Zumindest im Ansatz. Nur dann wird wirklich sichergestellt, daß es wirklich paßt mit der eigenen Körperorganisation. Und daß die Bewegungs- und Körperhaltungsidee wirklich die richtige ist.

 

Am besten übt man dafür immer wieder auch auf vier Beinen, und dann wieder auf zwei Beinen und mit den Armen.

 

Hierzu gibt’s ein erhellendes Youtube-Video, bei dem ein Mädchen läuft und springt wie ein Pferd auf allen Vieren. Zu finden ist es unter dem Titel:

"Sie springen wie Pferde: Kein Scherz, sondern sportliche Leistung"

 

 

Steht man wieder auf seinen zwei Beinen, dann ist es wichtig, daß man das gleiche Gefühl in sich herstellt, welches man auch auf vier Beinen erlebt hat. Denn das Pferd braucht die Information für seine Vorder- und Hinterbeine, für seinen Rücken, seinen Hals, sein Genick, seine Kiefergelenke etc.

 

Deshalb müssen wir, wenn wir als Zweibeiner unterwegs sind, unsere Arme doch wie ein Vierbeiner empfinden, und sie so einsetzen können. Unsere Arme und Schultern müssen so federungsfähig sein, als wären wir Handballspieler, die den Ball im Takt am Boden auf und ab hüpfen lassen können.

 

Auch unser Rücken muß sich tragfähig und stabil-federn anfühlen. Eben so wie die Pferdewirbelsäule sein soll. Auch das Becken, die Schultern, und insgesamt die ganze Wirbelsäule einschließlich Hals, Atlas und Kopf müssen so empfunden werden, wie all diese Körperteile des Pferdes sein sollen. Dabei darf unser Hals keinen Bogen machen, wie wir ihn uns vom Pferd wünschen!

 

Unser Kopf balanciert auf dem gelösten Nacken und dem Atlas wie ein Ball auf einer Springbrunnenfontäne. Der Kopf des Pferdes hängt dagegen gelöst und geschmeidig beweglich am Atlas. Nur das gelöste angenehme Gefühl ist das gleiche bei Mensch und Pferd.

 

 

Solchen möglichen Fehlerquellen gilt es auf die Spur zu kommen, denn es treten immer mal wieder Missverständnisse auf bezüglich der passenden Umsetzung der Mechanik und Körperhaltung des Pferdes.

 

 


  

 

 

 

 

 

Kontakt

 

Annette Hohenrainer

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